Wenn Selbstzweifel laut werden
Sarah hat gerade ihr Studium erfolgreich abgeschlossen, einen guten Job angefangen und bekommt regelmäßig positives Feedback für ihre Arbeit – und trotzdem quälen sie Selbstzweifel: „Ich bin einfach nicht gut genug – egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich kann die Erwartungen der anderen nicht erfüllen, ich muss mich mehr anstrengen.“ Abends, wenn die Ablenkungen des Tages verstummen, fühlt sie sich unsicher, klein und zutiefst unzulänglich. Warum reicht all der Erfolg nicht aus, um diese Stimme zum Schweigen zu bringen?
Ein klassisches Beispiel für tief verwurzelte Selbstzweifel, die sich auch durch äußeren Erfolg kaum beruhigen lassen.
Vom inneren Kritiker und erlernter Hilflosigkeit
Kristin Neff beschreibt in ihrer Forschung zum Selbstmitgefühl genau diesen inneren Antreiber: Eine Stimme, die uns ständig unter Druck setzt, bei jedem Fehler abstraft und unsere Selbstzweifel immer wieder anfeuert. Gleichzeitig greift das Konzept der erlernten Hilflosigkeit (Martin Seligman): Haben wir wiederholt die Erfahrung gemacht, dass Bemühungen keine Wirkung zeigen, neigen wir dazu, gar nicht erst zu versuchen – und geraten in eine Spirale aus Resignation.
Kurze Reflexion:
Welche wiederkehrende Selbstkritik spürst du in dir, wenn etwas nicht gelingt?
Nimm dir einen Moment, den Gedanken nur wahrzunehmen, ohne ihn bewerten zu müssen.
Achtsamkeit als Haltungswechsel – Der erste Schritt ist der schwerste
Achtsamkeit und Selbstmitgefühl klingen oft einfacher, als sie sind. „Beobachte deine Gedanken wie Wolken am Himmel“ oder „Sei freundlich zu dir selbst“ – solche Ratschläge können in stressigen oder depressiven Phasen leicht wie leere Worte oder sogar wie eine Provokation wirken. Viele Menschen erleben das als frustrierend oder sogar entmutigend und erleben womöglich Scheitern anstatt Wirksamkeit. Die Gedanken, die uns plagen, lassen sich nicht einfach vertreiben, und der innere Kritiker ist oft laut und hartnäckig.
Doch genau hier setzt Achtsamkeit an: Sie ist nicht die Einladung, einfach alles wegzuwischen, sondern der Versuch, die eigenen Gedanken und Gefühle mit einer Haltung der Neugier und des Verständnisses zu begegnen, auch wenn das anfangs kaum möglich erscheint. Es geht nicht darum, die Gedanken oder Gefühle zu verändern oder zu verdrängen, sondern einen anderen Blick auf sie zu entwickeln. Das ist ein langsamer und oft mühsamer Prozess, der aber langfristig zu Entlastung, mehr Lebensqualität und einer tiefgreifenden inneren Stabilität führen kann.
Wie man damit anfängt: Ein realistischer Einstieg
Anstatt zu erwarten, dass du Selbstzweifel oder andere negative Gedanken direkt loslässt oder sie wie Wolken vorbeiziehen lässt, lade ich dich ein, zunächst anzuerkennen, dass diese Gedanken da sind.
Zum Beispiel:
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Beobachten: Statt zu versuchen, den inneren Kritiker sofort zu übergehen, erkenne ihn an. „Da ist diese Stimme, die mir sagt, dass ich versagt habe. Sie ist gerade sehr laut.“
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Freundlichkeit: Wenn du dich selbst kritisierst, frage dich, wie du auf einen guten Freund reagieren würdest, der genau diese Gedanken hat. „Was würde ich ihm jetzt sagen? Vielleicht: ‚Es ist okay, dass du dich gerade so fühlst. Ich bin für dich da.‘“
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Akzeptanz statt Veränderung: Beginne nicht mit der Vorstellung, dass sich alles sofort ändern muss. Akzeptiere die Gedanken als Teil deiner Erfahrung, ohne sie zu stark zu bewerten.
Die Autobahn verlassen …
Dieser Ansatz ist weniger ein „Schnellhilfe-Trick“ und mehr ein langfristiger, langsamer Weg, der nicht immer funktioniert, aber über Zeit Resilienz und Selbstverständnis aufbaut. Dabei lohnt es sich, sich bewusst zu machen, wie lange wir oft das Gegenteil geübt haben: Widerstand, Ablenkung, Selbstoptimierung. Man kann es sich vorstellen wie eine gut ausgebaute Autobahn, auf der wir jahrelang unterwegs waren – schnell, effizient, scheinbar bequem, aber oft auch mit viel innerem Druck und Schmerz verbunden.
Wenn wir beginnen, Achtsamkeit zu praktizieren, biegen wir von dieser vertrauten Strecke ab. Wir verlassen den gewohnten Asphalt und betreten ein unwegsames Gelände. Der neue Pfad ist holprig, anfangs kaum erkennbar. Wir stecken im Dickicht fest, stolpern, verletzen uns vielleicht am dornigen Gestrüpp der eigenen Gedanken und Gefühle. Doch mit der Zeit wird dieser Pfad breiter, klarer und tragfähiger – und vor allem lebendiger. Langfristig kann er zu mehr Lebensqualität, innerer Freiheit und Vitalität führen als jede Schnellstraße, die uns nur weiter antreibt.
Unterstützung finden
Es ist ganz normal, dass der Weg zu mehr Achtsamkeit und Selbstmitgefühl am Anfang herausfordernd ist. Viele Menschen sind anfangs überfordert und fühlen sich unsicher, wie sie Achtsamkeit in ihren Alltag integrieren können. In solchen Momenten ist es völlig in Ordnung, sich Unterstützung zu holen. Ob durch ein achtsames Coaching, eine geführte Meditation oder eine Gruppe – der Austausch und die Begleitung können entscheidend sein, um nicht das Gefühl zu haben, alleine zu kämpfen.
Meine Erfahrung zeigt, dass viele Klient:innen, die unter Selbstzweifeln, Selbstabwertung oder starkem innerem Druck leiden, von der Unterstützung in einem Kurs oder einer Gruppe profitieren, weil sie durch diese Struktur nicht nur praktische Werkzeuge, sondern auch Mitgefühl und Verständnis erfahren und sich gehalten fühlen.
Achtsamkeit lässt sich zwar grundsätzlich auch allein üben, doch oftmals braucht es einen sanften Einstieg, um wirklich nachhaltig von den positiven Effekten zu profitieren – besonders, wenn Selbstzweifel und Überforderung lange Begleiter waren.
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