Online Achtsamkeitskurse
Ein kritischer Blick
Ein kritischer Blick
Wenn Sie darüber nachdenken, einen MBSR-Kurs zu besuchen und zwischen Online- und Präsenzformaten abwägen, ist dieser Artikel für Sie besonders relevant – auch wenn er etwas länger ist. Denn die Wahl des Kursformats kann entscheidend dafür sein, wie tief und nachhaltig Ihre Achtsamkeitspraxis wirkt.
Seit Corona in unseren Alltag eingezogen war, haben mich vermehrt Anfragen erreicht, ob ich auch Online-MBSR-Kurse anbiete. Zugleich lässt sich beobachten, dass sich Online-Kurse mittlerweile stark etabliert haben. Dennoch gibt es bisher keine belastbaren Nachweise dafür, dass sie die Tiefe und Qualität eines Präsenzkurses tatsächlich vermitteln können.
Warum Online-Formate in der Achtsamkeitspraxis oft hinter Präsenz zurückbleiben
Die Forschung legt nahe: Achtsamkeit lebt von direkter menschlicher Interaktion, Präsenz und Rückmeldung. Gruppenprozesse, nonverbale Kommunikation und das gemeinsame Erleben von Übungen sind zentrale Faktoren für die Wirksamkeit von MBSR. Online-Kurse können dies nur eingeschränkt abbilden (z. B. Dimidjian et al., 2019; Spijkerman et al., 2016).
Interessanterweise sind selbst Achtsamkeitslehrende, die vor der Corona-Zeit solchen Angeboten überaus kritisch gegenüberstanden, mittlerweile auf den Zug aufgesprungen und bieten achtwöchige Online-Kurse an. Teilweise handelt es sich darunter auch um sehr dubiose Angebote. Dies zeigt, dass Online-Kurse zwar zunehmend verbreitet sind, die Qualität jedoch stark variiert und die zentrale, persönliche Erfahrung eines Präsenzkurses nicht ersetzt wird.
Wichtig: Online-Kurse haben durchaus nachweisbare Effekte, zum Beispiel auf Stressreduktion oder Achtsamkeits-Scores. Sie können jedoch nicht alle zentralen Wirkfaktoren eines Präsenzkurses abbilden – insbesondere die direkte soziale Resonanz, das Sicherheitsgefühl in der Gruppe und die körperliche Präsenz bleiben stark eingeschränkt. Warum gerade diese Wirkfaktoren so entscheidend für eine nachhaltige und tiefe Achtsamkeitspraxis sind, erläutere ich im weiteren Verlauf dieses Artikels.
Kommerzialisierung und Vereinfachung von Achtsamkeitsangeboten
Vor einiger Zeit stieß ich auf einen „Worldwide MBSR Online-Kurs“, der auf 50 Teilnehmende ausgelegt war. Ein anderes Angebot besteht lediglich darin, Videosequenzen und ein Begleitheft bereitzustellen, sodass die Teilnehmenden mit sich selbst und ihren Erfahrungen allein gelassen werden. Dieses Format wird dann als MBSR-Selbststudium bezeichnet. Ob und für wen dies wirklich sinnvoll ist, bleibt fraglich.
Sogar manche Krankenkassen scheinen es für eine gute Idee zu halten, ihre Versicherten noch stärker an digitale Medien zu binden. Aus meiner Erfahrung benötigen viele Kursteilnehmende jedoch eher Abstand von digitalen Medien, um überhaupt in einen echten Kontakt mit sich selbst und ihrer Achtsamkeitspraxis zu kommen.
In Fachkreisen spricht man bereits von „McMindfulness“ – einem Begriff für die Kommerzialisierung und Vereinfachung von Achtsamkeitsangeboten. Ob solche Auswüchse noch im Sinne des „Erfinders“ sind, ist fraglich.
Ist Achtsamkeit online erlernbar?
Irgendetwas wird man sicherlich lernen, doch ich frage mich, ob die Essenz des Miteinanders – die Verbundenheit mit der Gruppe, die in einem MBSR-Kurs zentrale Wirkfaktoren darstellen – sowie die Wahrnehmung des ganzen Menschen tatsächlich über eine Glasfaserleitung übertragen werden können. Nicht zuletzt berichten viele Teilnehmende, dass sie das Präsenzsetting als sicheren Raum wahrnehmen.
Wenn Sie die Wahl hätten, einem Konzert, einem Theaterstück oder einem anderen Event in Präsenz beizuwohnen oder es alternativ über Zoom oder Teams zu verfolgen, wofür würden Sie sich entscheiden?
Was führt Sie zu dieser Entscheidung?
Eine von mir sehr geschätzte Kollegin, die selbst ein Ausbildungsinstitut für Achtsamkeitslehrende leitet, schrieb zum Thema Online-Achtsamkeitskurse:
„In einer Facebook-Gruppe wurde die Frage gestellt, ob Achtsamkeit auch über einen Online-Kurs erlernbar sei. Ich habe da Zweifel und habe sie in meiner Antwort begründet.“
Ein Zitat von Maya Angelou trifft dies sehr treffend:
„Die Menschen werden vergessen, was du gesagt hast.
Die Menschen werden vergessen, was du getan hast.
Aber die Menschen werden nie vergessen, was sie bei dir gefühlt haben.“
Gerade im Lehren von Achtsamkeit erlebe ich dies immer wieder: Wenn ich an meine eigenen Lehrer:innen zurückdenke, erinnere ich mich kaum noch an ihre Worte. Was jedoch lebendig in mir geblieben ist, sind die Momente der Verbundenheit – Momente, die mir die Schönheit und Kraft einer achtsamen Haltung offenbart haben.
Sei es während des Unterrichts, bei gemeinsamen Gesprächen, Mahlzeiten oder Spaziergängen. All das lebt in mir weiter, hat mich geprägt und in meiner Entwicklung unterstützt. Ob dies genauso möglich gewesen wäre, wenn ich all dies nicht in der ganzheitlichen Präsenz dieser Menschen erlebt hätte? Ich wage es zu bezweifeln.
Die neurobiologische Perspektive: Präsenz, Sicherheit und Verbundenheit
Noch überzeugter von meiner These bin ich, seit ich mich mit der Polyvagal-Theorie von Dr. Steven Porges, einem US-amerikanischen Psychiater und Neurowissenschaftler, beschäftiget habe.
Die Polyvagal-Theorie hat unser Verständnis darüber revolutioniert, welche zwischenmenschlichen Bedingungen wir benötigen:
Die Polyvagal-Theorie erklärt, wie Sicherheit und Verbundenheit neurobiologisch verankert sind und warum gemeinsame Präsenz in Gruppen entscheidend ist. Besonders im Kontext von Achtsamkeit wurde dieser Zusammenhang bereits wissenschaftlich untersucht, etwa in Mindfulness-based movement: A polyvagal perspective
Das autonome Nervensystem im Einsatz
Verbundenheit
Wenn das ANS die Umgebung als sicher einschätzt, wird das Social-Engagement-System (SES) aktiviert. Dieses ermöglicht soziale Interaktion, Nähe, Verbundenheit, Entspannung und Selbstwirksamkeit. Merkmale dieses Zustands sind: Sicherheit, Geborgenheit, Regeneration, Kreativität, Neugier, Spiel, Flow und die Fähigkeit, erwachsen zu sein.
Kampf oder Flucht
Wird die Umgebung als bedrohlich eingeschätzt, aktiviert das ANS den Sympathikus. Dieser Zustand ist durch Fokus auf Gefahr, erhöhte Erregung und Aggressivität, gesteigerte Sinneswahrnehmung, Bewegungsdrang, Blutdruck- und Pulserhöhung sowie eine Aktivierung von Kampf- oder Fluchtverhalten gekennzeichnet.
Erstarrung
Erscheint eine Situation als lebensbedrohlich, sodass Kampf oder Flucht nicht möglich sind, aktiviert das ANS den dorsalen Vagusnerv. Dies führt zur Erstarrung oder zum Totstellreflex. Typische Merkmale sind Antriebsstörung, Hilflosigkeit, Gedankenspiralen, Dissoziation und Erstarrung.
Wenn das Social-Engagement-System voll entwickelt ist, erfüllt es zwei zentrale Funktionen:
Es reguliert den körperlichen Zustand, reduziert Stressreaktionen über den ventralen Vagus, wirkt auf das Immunsystem ein und unterstützt Heilung sowie Entwicklung.
Es ermöglicht die Kommunikation des körperlichen Zustands über die Gesicht-Herz-Verbindung – u. a. durch Mimik, Stimme und Mittelohrmuskulatur. So können wir in sozialen Interaktionen feinste Signale wahrnehmen und auf die menschliche Stimme fokussieren. In Stresssituationen hören wir diese Signale jedoch oft nicht, da das Hören von potenziellen Gefahren Priorität hat und dadurch nur bestimmte Frequenzen (z. B. von Raubtieren) wahrgenommen werden. Unter diesen Bedingungen wird die soziale Wahrnehmung stark eingeschränkt.
Diese Erkenntnisse machen deutlich, warum die direkte Präsenz von Lehrenden und Teilnehmenden in MBSR-Kursen so entscheidend ist. Nur in der physischen Begegnung kann das Social-Engagement-System optimal aktiviert werden, Sicherheit und Verbundenheit entstehen, und die tiefgreifende Wirkung von Achtsamkeit auf Körper und Psyche kann voll entfaltet werden.
Wir können nur dann in soziale Interaktion treten, wenn wir uns sicher fühlen. Ausschlaggebend dafür ist, ob unser autonomes Nervensystem Sicherheit wahrnimmt. Die dann vorherrschende soziale Interaktion sorgt zusätzlich für ein stärkeres Gefühl von Sicherheit.
Steven Porges beschreibt in der Polyvagal-Theorie zwei Pfade, über die unser Nervensystem Sicherheit vermittelt:
Die passiven Pfade aktivieren das System für soziale Verbundenheit, indem sie Signale aus der Umgebung wahrnehmen, die Sicherheit vermitteln. Dazu zählen beispielsweise eine ruhige Umgebung, positive Interaktionen mit anderen Menschen, das Empfangen von Mitgefühl oder Töne im Frequenzbereich vokaler Klänge, die mit Sicherheit assoziiert werden.
Die aktiven Pfade stimulieren das Social-Engagement-System durch eigene Handlungen – etwa Sprechen, kontrolliertes Atmen („dreimal tief durchatmen“) oder bestimmte Körperhaltungen. Damit diese aktiven Pfade wirksam werden, ist jedoch ein gewisses Maß an „Grundsicherheit“ erforderlich, das über die passiven Pfade vermittelt wird.
Ein praktisches Beispiel für die Wirksamkeit dieser Mechanismen ist das Safe and Sound Protocol (SSP) von Porges. Dabei handelt es sich um ein auditive Trainingsprogramm, das speziell Frequenzen menschlicher Stimme nutzt, um das Social-Engagement-System zu aktivieren und ein Gefühl von Sicherheit zu fördern. Studien und praktische Anwendungen zeigen, dass gezielt erzeugte Sicherheitssignale das ANS beruhigen und die Fähigkeit zur sozialen Interaktion stärken können – etwas, das Online-Kurse nur eingeschränkt oder indirekt erreichen.
Wir sind also existenziell auf soziale Interaktion und Verbundenheit angewiesen, um überhaupt ein Gefühl von Sicherheit in uns erzeugen zu können. Auch die Erinnerung an früh erfahrene Verbundenheit kann die Aktivierung dieser Sicherheitsmechanismen unterstützen.
Unser autonomes Nervensystem besitzt zudem die Fähigkeit zur Co-Regulation: Wenn wir Sicherheitssignale über eine andere Person wahrnehmen, kann auch ein „unsicheres“ ANS nach und nach in einen ventral-vagalen Zustand gelangen. Dadurch entsteht eine Resonanz zwischen den Nervensystemen – ein lebendiger Kontakt, der sich kaum in Worte fassen lässt. Man könnte es als „Mit dem einen Herzen das andere Herz berühren“ oder „Lehren ohne Worte, Wirken ohne Tun“ beschreiben. Ob dies über Zoom oder MS Teams in vergleichbarer Tiefe möglich ist, muss jede:r für sich entscheiden.
Empirische Evidenz: Studien zeigen, dass soziale Interaktionen im Präsenzsetting die ventral-vagale Aktivität erhöhen, die Herzratenvariabilität (HRV) verbessern und ein stärkeres Sicherheitsgefühl vermitteln (z. B. Porges, 2017; Thayer et al., 2012). Dies stützt die Annahme, dass Präsenzkurse physiologisch wirksamer sind als reine Online-Formate.
Die Haltungen der Achtsamkeit – wie Anfängergeist, Nicht-Werten, Nicht-Streben, Geduld oder Selbstmitgefühl – werden am besten durch das lebendige Vorbild eines erfahrenen Lehrenden vermittelt.
An dieser Stelle stellt sich die Frage nach der Absicht hinter einem Online-Angebot. Geht es primär um die kognitive Vermittlung von Wissen und Übungen, kann ein Online-Achtsamkeitskurs durchaus praktikabel sein. Geht es jedoch um die tiefergehende Erfahrung von Verbundenheit, Sicherheit und Präsenz, stößt das Online-Format an seine Grenzen.
Fazit: Präsenz oder Online – welche Wahl stärkt Achtsamkeit wirklich?
Geht es hingegen darum, Achtsamkeit in ihrer ursprünglichen Absicht zu erfahren – als Praxisweg zur Einsicht, geprägt von Verbundenheit und menschlicher Wärme – dann halte ich Online-Lösungen, wenn überhaupt, nur für sehr begrenzt geeignet.
Wenn Sie die Möglichkeit haben, einen Achtsamkeitskurs in Präsenz zu besuchen, sollten Sie dies einer Online-Variante meiner Meinung nach unbedingt vorziehen.
Am Ende muss man vielleicht beides erlebt haben, um wirklich zu verstehen, wovon ich hier schreibe: Die unmittelbare Erfahrung von Verbindung, Sicherheit und menschlicher Präsenz lässt sich nur in einem physischen Kurs in dieser Tiefe erfahren.